Selbstoptimierung: Eine schöne Kinnpartie wollen viele – wie Kaugummikauen dabei helfen soll

Wer eine schöne Kinnpartie will, muss kauen und zwar Kaugummis, am besten ultrahart. Für immer mehr Männer der Gen Z dient der Kaugummi als Sportgerät. Kann das funktionieren?

Es gab eine Zeit, in der war die extrem schlanke Silhouette von Kate Moss das Nonplusultra der Körperästhetik. Heroinchic nannte man das damals, heute nennt man es toxisch. Dann gab es eine Zeit, in der Männer gebaut wie Actionfiguren, Arnold Schwarzenegger oder Jean-Claude van Damme, Maß männlicher Sexyness waren. Was als schön gilt, das liegt jahrzehntabhängig irgendwo zwischen Bowie-Androgynität und Dolly-Buster-Brüsten, Fitness-Influencer und Rubens-Sinnlichkeit. Teil der aktuellen Mode: eine Kinnpartie schärfer als Rasierklingen. Die Männer der Gen Z beißen dafür im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne zusammen. Sie haben ihr Alkahest fürs perfekte Kinn im Kaugummi gefunden.

Schönheitsideale sind eine ungerechte Sache. Die einen haben Glück, sind mit der passenden Genetik gesegnet, andere müssen hart dafür arbeiten oder gar chirurgisch nachhelfen, um die aktuell angesagte Optik zu erreichen. Hintern werden mit Squats geformt, die Jawline – der englische Begriff für die Kieferlinie ist in diesem Zusammenhang gängiger – mit Gesichtsgymnastik. Das Trainingsinstrument: Kaugummi, möglichst hart. Auf TikTok und Youtube betreiben vor allem Männer der Gen Z das Kaugummikauen wie einen Hochleistungssport. Ihren vermeintlichen Progress vom Schwabbelkinn zum Clark-Kent-Profil dokumentieren sie in Videos.

Ultraharte Kaugummis sollen attraktiver machen

Inzwischen gibt es etliche Kaugummimarken, die auf den Trend aufgesprungen sind. Sie bieten Kaugummis an, die explizit zum Zweck der Facial Fitness, also dem Training für die Gesichtsmuskulatur, entwickelt wurden. Darunter „Stronger Gum“. Die Marke wirbt damit, die Kinnpartie innerhalb von zwei Wochen modellieren zu können. Oder die Konkurrenz „Jawliner“, die ihr Produkt direkt als Gesichtsfitness-Kaugummi deklariert. Dass die Unternehmen damit den Puls der Zeit treffen, zeigen die Zahlen. Mehr als eine Million Kaugummipackungen soll Jawliner bereits verkauft haben, berichtet die Unternehmenssprecherin Tiffany Tran der „New York Times“. 60 Prozent der Kunden seien zwischen 18 und 25 Jahre alt.

Ist der Hype ums Kauutensil gerechtfertigt oder steckt hinter den Jawliner-Kaugummis mal wieder nur geschicktes Marketing? Auf der einen Seite stehen die Kaugummifirmen, die unter anderem mit einer Studie aus 2018 argumentieren. Diese legt nahe, dass eine Verbesserung der Beißkraft durchs Kaugummikauen erzielt werden könnte. Die vorsichtige Formulierung im Konjunktiv kommt nicht von Ungefähr. Mit nur 19 Teilnehmenden handelte es sich um eine Mini-Studie mit wenig Aussagekraft. Insgesamt ist die wissenschaftliche Datenlage mehr als überschaubar. Zudem haben sich bereits diverse Experten zu Wort gemeldet, die dem Kaugummikauen zur Gesichtsmodellation mindestens skeptisch gegenüberstehen oder gar davon abraten. Die Zahnärztin Dr. Andrea Jacob zählt dazu.

Durchs Kaugummikauen zur perfekten Kinnpartie? 

Jacob hat den Jawliner-Kaugummi über knapp zwei Monate selbst getestet. Auf Youtube erzählt die Zahnärztin von ihren Erfahrungen und klärt über Sinn und Unsinn des Trends auf. Der von ihr getestete explizit als kinndefinierend ausgewiesene Kaugummi sei „brutal hart“ gewesen. So hart, dass sie sich beim Kauen ein Inlay rausgezogen habe. Sie sagt deutlich: „Für solche Kaugummis musst du gesunde Zähne haben – feste Füllungen, feste Brücken“. Sie erklärt außerdem, dass der menschliche Körper mehr Muskeln zum Schließen als zum Öffnen des Kiefers habe, die Bewegungstendenz daher ohnehin eher zum Schließen gehe. Wenn das auch noch gepusht und überstrapaziert werde und dadurch ein Ungleichgewicht von Schließer und Öffner ausgebaut werde, könne dies zu extremen Problemen führen. Vor allem Menschen, die sowieso schon Schwierigkeiten in dem Bereich haben, zum Beispiel zum Knirschen neigen, sollten die Finger von den Kaugummis lassen. „Das wäre wie Öl ins Feuergießen“, sagt sie.

Und was ist mit den optischen Effekten? Bringt das Dauerkauen etwas? Glaubt man den Videos auf Social Media: Ja. Dort schreiben etliche junge Männer ihre kantigen Gesichtszüge eben dem Kaugummikauen zu. Ob man tatsächlich an der Kieferpartie abnehme oder nicht, käme auch auf den Körperfettanteil an, ordnet Andrea Jacob ein. Sie sagt: „Wenn in der Partie etwas mehr an Fleisch ist, wirst du es nicht schaffen, das innerhalb von 30 Tagen zu reduzieren und Muskeln aufzubauen.“ Auch Jacobs eigene Kinn-Kiefer-Partie hat sich durch das monatelange Kaugummikauen nicht wirklich verändert. Ihr Fazit: „Mein Selbstexperiment hat sein Ziel nicht erreicht.“

Quellen: Studie 1 , Studie 2, New York Times, Youtube