Wie schmeckt eigentlich Sake für 700 Euro? Eine Verkostung mit Deutschlands erster Sake-Samurai öffnet die Augen für eine Welt jenseits von Sushi und warmem Reiswein.
Das Etikett ist aus handgeschöpftem Papier, so dünn, dass man durch die Flasche hindurchsehen kann. Der Inhalt kostet 700 Euro – für 0,72 Liter. Als ich den ersten Schluck des Premium-Sake nehme, verstehe ich den Respekt, den selbst Kenner vor diesem Tropfen haben. Es ist, als würde ich flüssige Seide trinken.
„Dass man aus Reis und Wasser so was machen kann – unfassbar“, sagt Yoshiko Ueno-Müller und lächelt, während sie mir einschenkt. Die 58-Jährige ist Deutschlands erste Sake-Samurai, eine Kulturbotschafterin für japanischen Reiswein. Seit fast 20 Jahren importiert sie Premium-Sake nach Deutschland und kämpft gegen das verstaubte Image des warmen Schnapses, den viele noch aus Sushi-Restaurants kennen.
Eine Bauchentscheidung verändert alles
„Ich bin seit 36 Jahren in Deutschland“, erzählt die gebürtige Japanerin mit kurzen schwarzen Haaren, die von grauen Strähnen durchzogen sind. „Als ich hierherkam, kannten die Leute Sake überhaupt nicht. Ich wurde ständig gefragt: ‚Was ist das?'“ Die gelernte Controllerin arbeitete damals bei einer japanischen Firma, träumte aber von einem Kulturaustausch zwischen Japan und Deutschland. „Damals aßen viele Kollegen jeden Tag Sushi. Aber Sushi und dazu Riesling? Das passte für mich nicht, also dachte ich, ich mache das mal umgekehrt: deutsche Sterneküche mit Premium-Sake.“
Ein halbes Jahr später kündigte sie ihren Job, sparte Geld und fuhr sechs Wochen nach Japan, um Sake-Produzenten kennenzulernen. Das war 2005.
Mikroorganismen als Künstler
Was Sake so faszinierend macht, erfährt man erst, wenn man versteht, wie er entsteht. „Es sind acht verschiedene Prozesse“, erklärt Ueno-Müller. Zunächst werde der Reis poliert – nicht gemahlen, sondern die äußeren Schichten würden mit Eiweiß und Fett abgetragen, bis nur noch die reine Stärke im Kern übrig bleibe. „Bei Premium-Sake werden nur 35 Prozent des ursprünglichen Korns verwendet“, sagt sie.Sake-Samurai Yoshiko Ueno-Müller
© Markus Bassler
Der magische Moment kommt mit dem Koji-Pilz. „Das ist ein Schimmelpilz, der auf den gedämpften Reis gestreut wird und zwei Tage und Nächte in einer beheizten Kammer bleibt.“ Der Pilz produziere Enzyme, die Stärke in Zucker spalten und gleichzeitig Aminosäuren freisetzen – das sorge für den charakteristischen Umami-Geschmack. „Es ist wie bei Camembert – ein Schimmelpilz, aber wenn man daran riecht, duftet es wie heiße Maroni.“
Bei Spitzenqualitäten dauert die Gärung 35 Tage bei niedrigen Temperaturen. „Jeden Tag hört man Geräusche unter der Oberfläche“, schwärmt Ueno-Müller. „Manche Braumeister gehen nachts zu ihren Fässern wie zu ihrem eigenen Kind, schauen und hören zu. Es ist ein Sake-Geflüster.“
Der Rolls-Royce unter den Sake
Der 700-Euro-Sake stammt von der Dassai-Brauerei, die mit ihrem „Beyond“-Produkt sogar den bereits legendären Dassai 23 übertrifft. Sie verwenden ausschließlich Yamada Nishiki, den „Riesling unter den Sake-Reisorten“, und polieren den Reis auf 23 Prozent herunter – beim „Beyond“ ist der Poliergrad sogar geheim.
„Je mehr man poliert, desto teurer und feiner wird der Sake“, erklärt Ueno-Müller. Das Ergebnis ist keine betonte Fruchtigkeit, sondern pure Geschmeidigkeit und Eleganz. Bei jedem Schluck spürt man die Viskosität, eine samtartige Textur, die nur aus Reis, Wasser und der Kunst jahrzehntelanger Erfahrung entstehen kann.
Besonders spannend sind die neuen Trends: Richard Geoffroy, ehemaliger Chef de Cave von Dom Pérignon, hat nach über 25 Jahren als Champagner-Kellermeister seine Komfortzone verlassen und 2021 die Sake-Brauerei IWA in Shiraiwa gegründet. Der Franzose stellt dort Sake nach Champagner-Methoden her – mit Assemblage aus mehr als 20 verschiedenen Basis-Sake und 15-monatiger Flaschenreife. „Völlig unüblich für Sake“, sagt Ueno-Müller.
„Das wahre Terroir des Sake liegt in der Brauerei“, erklärt Geoffroy seine Philosophie. „Im Gegensatz zum Wein wird der Geschmack von Sake nicht nur von Reis und Wasser bestimmt, sondern von der Eigenschaft der Brauerei und dem komplexen Brauprozess.“ Seine Brauerei, entworfen vom renommierten Architekten Kengo Kuma, liegt malerisch vor dem heiligen Berg Tateyama. „Sake ist überraschend frei im Vergleich zu Weinen, die an das französische Herkunftssystem gebunden sind“, schwärmt der Franzose. „Leider nutzen die Japaner diese Freiheit bisher kaum.“Mehr zum Thema japanischer Reiswein in Yoshiko Ueno Müllers „SAKE. Mythos. Handwerk. Genuss“. Erschienen im Prestel Verlag. 50 Euro.
Auch die Rolle der Frauen bei der Sake-Produktion verändert sich. Ursprünglich waren es Shinto-Priesterinnen, die Sake herstellten – durch Kauen und Ausspucken von Reis. Dann wurde daraus jahrhundertelang eine Männerdomäne. „Wenn Frauen in der Brauerei waren, hieß es, das störe die Konzentration“, erzählt Ueno-Müller. „Heute gibt es immer mehr weibliche Braumeisterinnen.“
Gorgonzola mit Sake – eine Überraschung
Zum Abschluss serviert Ueno-Müller Gorgonzola zu einem fruchtigen Sake der 300 Jahre alten Fukuju-Brauerei – eine Kombination, die jeden Wein alt aussehen lassen würde. „Wo Wein die Grätsche macht, beginnt Sake erst“, erklärt sie. Der salzige, penetrante Käse wird vom Sake aufgelockert, die Milchsäure harmoniert mit der süßen, zarten Präsenz des Reisweins. „Es ist eine glückliche Kombination.“
Premium-Sake kostet zwischen 25 und 60 Euro pro Flasche – ein Bruchteil vergleichbarer Weine. Doch das Bewusstsein für Qualität wächst langsam. „Junge Sommeliers sind oft noch konservativ“, seufzt Ueno-Müller. „Sie haben Angst, weil sie sich nicht auskennen. Köche sind offener – sie sind begeistert von neuen Aromen.“
Nach zwei Stunden Verkostung bin ich überzeugt: Sake ist weit mehr als ein exotisches Getränk. Es ist flüssige Handwerkskunst, entstanden aus der Magie von Mikroorganismen und jahrhundertealter Tradition. Vielleicht bin ich jetzt für immer verdorben – aber auf eine schöne Art.